Sonntag, 20. Dezember 2009

Missbrauch des Leistungsbegriffs

Immer wieder mal lassen Prommis im Fernsehen den Begriff Leistungsgesellschaft fallen. Grade neulich beim Reinzappen zum Länderspiel gegen die Elfenbeinküste hörte ich ihn Günter Netzer sagen, im Zusammenhang mit dem Selbstmord von Robert Enke. Was Netzer vorher genau dazu sagte, habe ich nicht mitbekommen, wie er aber sagte, wir leben nun mal in einer Leistungsgesellschaft, klang es so wie üblich: Leistungsgesellschaft als eine Gesellschaft spezieller Menschen, für die Arbeit, Maloche, Leistung, aber vor allem Geld, oberste Priorität hat, und für Sensible, Zweifler, Nachdenkliche und Müssiggänger einfach kein Platz ist. Tatsächlich bedeutet Leistungsgesellschaft eigentlich was ganz anderes. Wie folgender Auszug aus der Microsoft Encarta Enzyklopädie 2000 zeigt.
Leistungsgesellschaft, eine Industriegesellschaft, in der Positionen, Privilegien und Gratifikationen an Individuen oder Gruppen ausschließlich nach der für die Gesellschaft erbrachten Leistung vergeben werden.
Stand, Geburt, Hautfarbe oder Geschlecht scheiden als Zugangs- und Belohnungskriterien in modernen bürgerlichen Gesellschaften aus, da die Gesellschaft von ihren Mitgliedern als gerecht erachtet werden soll.
Kritiker stellen in Frage, ob in den entwickelten Industrieländern die individuelle Leistung tatsächlich für Privilegien, Eigentum, Einkommen oder soziales Prestige verantwortlich ist oder ob nicht gerade diejenigen, die umfangreiche Privilegien genießen, fälschlicherweise der Ansicht sind, außergewöhnliche Leistungen erbracht zu haben. Zum anderen erscheint die Festlegung, was eine gesellschaftlich zu honorierende Leistung ist und wie sie bemessen werden kann häufig als willkürlich. So kann man z. B. beobachten, dass vermögende Menschen ein leistungsloses Einkommen beziehen und in der sozialen Machtposition des Arbeitgebers Leistungsansprüche an andere stellen und durchsetzen können. Umgekehrt macht die Leistung von Schwerarbeitern diese weder reich noch privilegiert. Historisch gesehen basiert in der bürgerlichen Gesellschaft privater Reichtum auf der Benutzung fremder Arbeitskraft.
Karl Marx meinte, vom Gewinn werde auf eine individuelle Leistung des Arbeitgebers zurückgeschlossen, was jedoch ein Fehlschluss sei. Der Lohn dagegen bezahle nicht die wirklich erbrachte Leistung des Arbeitnehmers; würde er dies, dann wäre der Kauf fremder Arbeitskraft unrentabel. Vielmehr orientiere sich der Lohn an den Gegebenheiten des Arbeitsmarktes.


Ich bin nicht in allem mit dem Text einverstanden. Reichtum und Priviligien sind ja Begriffe, deren Inhalt sich erst in Relation konkretisiert. Beispielsweise im Vergleich zu Sozialgeldempfängern sind Schwerarbeiter durchaus reich und privilegiert. Hartz-4-Leute stehen auf der sozialen und finanziellen Leiter ganz unten; im Vergleich zu ihnen ist ein Schwerarbeiter mit seinem Einkommen und seinem gesellschaftlichen Ansehen als Erwerbstätiger durchaus privilegiert.