Mittwoch, 1. September 2010

Von wegen zu sorgloser Umgang mit Antibiotika

Von diversen Journalisten wird aus Anlass des jüngsten Falles gestorbener Babys in der Uniklinik Mainz, auf Grund unhygienischer Klinikpraxis, unters Volk der Eindruck gestreut, ein angeblich zu sorgloser Umgang mit Antibiotika sei für die multiresistenten Keime verantwortlich. Auch wird der völlig absurde Eindruck erweckt, als sei die riesige Anzahl von Krankenhausinfektionen eine notwendige Folge immer leistungsfähigerer Medizin (ZDF Heute-Journal):

Dieses schiefe Bild muss grade gerückt werden.

Mindestens noch in den achtziger Jahren waren Ärzte im deutschen Gesundheitswesen im internationalen Vergleich extrem zurückhaltend bei der Verschreibung von Antibiotika.
"Deutsche Ärzte verschreiben sechs- bis siebenmal so häufig Digitalis (Herzmittel), wie ihre Kollegen in England und Frankreich, dafür aber weniger Antibiotika; einige deutsche Ärzte sind sogar der Ansicht, Antibiotika sollten nur verschrieben werden, wenn der Patient so krank ist, dass er im Krankenhaus liegen muss." Quelle: Lynn Payers - Andere Länder, andere Leiden

Bei solch einer zögerlichen Verabreichungspraxis von Antibiotika in Deutschland darf man sich nicht wundern, wenn deutsche Patienten als "Infektionsherde auf zwei Beinen" in den Kliniken landen. Dort werden sie dann auch noch von Schmutzfinken in weissen Kitteln behandelt, da ist dem Patientensterben durch Krankenhauskeime dann die Autobahn zur Hölle bereitet.

Bekanntlich sind deutsche Traditionen grade in so konservativen Zirkeln wie der Medizin sehr persistent. Also dürfte sich an der o.g. Paxis einer zu zögerlichen Verabreichung von Antibiotika wenig geändert haben. Die statistisch erhöhte Verschreibungspraxis von Antibiotika ist womöglich auf die erst vor wenigen Jahren auf den Markt gekommenen antiviralen Mittel wie Tamiflu und Relenza zurück zu führen, die durch die sog. Vogelgrippe und dann durch die sog. Schweinegrippe einen raketenhaften Absatz erfuhren.
Die zögerliche deutsche Verschreibungspraxis für Antibiotika liegt wohl darin begründet, dass der Erfinder des Penicillins kein Deutscher war. Denn beim Röntgen sind die deutschen Ärzte Weltmeister, obwohl diese Technik nicht mehr zeitgemäss ist.
Hingegen in der Tiermast wurden (und werden?) Antibiotika im Futter als Masthilfe verabreicht, die dann auch im verkauften Fleisch nachweisbar waren und zu Resistenzen bei den Verbrauchern geführt haben können. Auch daher resultieren hohe Verkaufszahlen der Antibiotika-Hersteller.

Ich kenne zB einen Patienten, bei dem eine schon ältere Borelliose-Infektion diagnostiziert wurde. In der Fachliteratur werden für ein solches Stadium massive, mehrmonatige, intravenöse Gaben hochwirksamer Antibiotika empfohlen. Die Ärzte dieses Patienten verschrieben jedoch nur orale Antibiotika und nur für einige Wochen.

Dem selben Patient wurde vor einigen Jahren auf Grund unhygienischer Arbeitsgeräte des Zahnarztes eine Zahnwurzelentzündung verursacht. Als er den entzündeten, abgestorbenen Zahn behandeln liess, wurde eine Mit-Infektion des Kiefers festgestellt, aber der Patient bekam keinerlei Antibiotika verschrieben. Er suchte im Laufe der langwierigen Zahnwurzelbehandlung (inkl. Überkronung) insgesamt sechs Zahnärzte auf. Kein einziger Zahnarzt verschrieb ihm Antibiotika! Bei soviel pfuschenden Zahnärzten kann man schon von einer repräsentativen Zahl und von systemischem Versagen sprechen. Mitlerweile ist die Infektion chronisch geworden, er also ein Infektionsherd auf zwei Beinen. Ganz klar ein Behandlungsfehler vieler Zahnärzte und es zeigt, dass nicht ein zuviel sondern ein zuwenig bei der Verschreibung von Antibiotika das Problem ist.

Es ist nicht nur ein Verkaufsargument im Beipackzettel wenn darauf hingewiesen wird, die Antibiotika nicht zu früh abzusetzen. Denn erst durch zu frühes Absetzen der Antibiotika kommt es zu Resistenzbildungen der übrig gebliebenen Bakterien.
Das frühe Absetzen hat mehrere Gründe bei mehreren an dem Geschehen Beteiligten - am wenigsten jedoch ist es die Schuld der Patienten.
Zum einen sind die Packungen anscheinend kleiner geworden, was im Interesse der Hersteller liegt. Eine Packung reicht so schon von vorneherein nicht für die gesamte Behandlungsdauer. Der Arzt muss also häufiger verschreiben, was natürlich ein zusätzliches Hinderniss für eine kontinuierliche, genügend lange Therapie ist. Die Patienten müssen für jede neue Packung erst zum Arzt, dort womöglich erneut die Praxisgebühr zahlen, falls ein Quartalswechsel dazwischen liegt, und in der Apotheke müssen sie ebenfalls nochmal für die Packung zahlen. Das ist nicht nur Abzocke und Hürdenlauf für kranke Menschen, sondern das ist eine systemische Förderung der Durchseuchung der Bevölkerung mit multiresistenten Keimen!

Das Beispiel Hollands zeigt, dass alle von deutschen Verteidigern der jetzigen Situation ins Feld geführten Argumente Unsinn sind. Holland ist ein mindestens so modernes Industrieland wie Deutschland, hat ein mindestens genauso fortschrittliches Gesundheitswesen, dass aber offensichtlich viel gesünder also besser für die Patienten ist, wahrscheinlich ohne eine zurückhaltenderer Verschreibungspraxis für Antibiotika, aber durch konsequentere Hygiene in den Krankenhäusern und einen angemesseneren Umgang mit Patienten.

Warum wird bei uns in Deutschland gegen die gigantisch hohen Krankenhausinfektionsraten und gegen die anderen Ärztepfuschereien in Operationssälen nichts Nachhaltiges getan? In Holland geht's doch.